NLA WO 143 Urk

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Beschreibung: Bestand

Identifikation (kurz)

Titel 

Grenzverträge

Laufzeit 

1508-1902

Bestandsdaten

Geschichte des Bestandsbildners 

Im 16. Jahrhundert wurden in Braunschweig-Wolfenbüttel eigene Ämter und Zuständigkeiten für Grenzfragen eingerichtet, so etwa das eines speziellen Sekretärs (vgl. NLA WO 26 Alt Nr. 1). Diesbezügliche Unterlagen wurden ab dem 17. Jahrhundert in einem separaten Archiv aufbewahrt, dem sogenannten Grenzarchiv (vgl. den Bestand NLA WO 26 Alt sowie das umfassende Bestandsvorwort, das zugleich weiterführende Literatur benennt). Unter Grenzfragen wurden dabei auch Auseinandersetzungen um die Jurisdiktion und Landeshoheit, um die Hut und Weide, Nutzungsrechte für Holzungen oder Flüsse verstanden, die - wie der vorliegende Bestand zeigt - in der Regel gemeinsam behandelt wurden. Zwischen 1851 und 1955 war das Grenzarchiv im sogenannten Grenzgewölbe der Kanzlei untergebracht und somit integraler Bestandteil des Landeshauptarchivs. Eine verwaltungs- und archivgeschichtliche Untersuchung des Grenzarchivs steht bislang noch aus.

Bestandsgeschichte 

Der Rat Johann Christian Leiste verfasste um 1840 ein "Findbuch" zum Grenzarchiv, das in Wahrheit aber mehr ist als ein Repertorium. Es enthält eine ausführliche Einleitung, die - freilich mit stark normativer Tendenz - einen Einblick in die (gewollten) Arbeitsweisen des Grenzarchivs bietet (NLA WO 36 Alt Nr. 556). Aus Leistes Ausführungen geht klar hervor, dass Karten und Urkunden (Rezesse) aus den Grenzakten herauszulösen waren, um sie separat zu lagern. Es ist daher davon auszugehen, dass der vorliegende Urkundenbestand größtenteils als gattungsspezifisches Selekt gebildet wurde, indem die Archivbeamten die heute darin befindlichen Urkunden den entsprechenden Grenzakten (größenteils dem heutigen Bestand NLA WO 26 Alt) entnommen haben. Dafür spricht auch, dass die meisten Rezesse als heftartige Papierukunden mit kleinen Sekretsiegeln ausgefertigt worden sind, die sich zur Zeit ihrer Entstehung mühelos in die Akten einsortieren ließen.

Der Bestand NLA WO 143 Urk wurde vermutlich noch im 18. Jahrhundert gebildet und von mehreren Schreibern in diesem und dem folgenden Jahrhundert in einem handschriftlichen Findbuch mittels Kurzregesten verzeichnet. Die Nummerierung der Signaturen erfolgte in chronologischer Abfolge. Im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts wurden einige Urkunden mittels Buchstaben-Nummern nachgetragen (62a, 63a,64a und 64b). Eine Zählung im Jahre 1960 ergab die Vollständigkeit der 85 Stücke. Im Jahre 1990 (Zg. 12/1990) wurden mit 143 Urk Nr. 82 und Nr. 83 zwei Urkunden hinzugefügt, welche die Bezirksregierung Braunschweig an das Archiv abgegeben hatte.

Im Jahre 2022, während der Corona-Krise, verzeichnete der Archivrat Dr. Philip Haas die Urkunden zunächst unter Rückgriff auf das handschriftliche Findbuch im Homeoffice. Später wurden sämtliche Urkunden am Original überprüft und die Verzeichnungen entsprechen ergänzt. Aus arbeitsökonomischen Gründen war es gleichwohl nicht möglich, die Grenzresse in bestmöglicher Erschließungstiefe zu verzeichnen: Aufgenommen wurden in Gestalt eines Kurzregests die Aussteller (Vertragsparteien), der Schauplatz, die Adressaten (im Sinne der Streitparteien, die mit den Ausstellern nicht identisch sein müssen), der grobe Gegenstand des Vertrages, das Datum, der Ort und die Beglaubigungsmittel. Oftmals umfassen die Urkunden detaillierte Regelungen zu zahlreichen Einzelfragen und nennen die beteiligten Kommissare, was beides im Sinne einer analytischen Verzeichnung in Form eines Vollregests idealerweise zu berücksichtigen gewesen wäre, aber nicht aufgenommen werden konnte. Für NLA WO 143 Nr. 47 wurde testweise eine umfassende Verzeichnung angelegt, die das Kurzregest erweitert. Wenn mehrere Urkunden unter einer Signatur verzeichnet und in einer Tasche verpackt waren, wurden sie mittels Strichnummern "auseinanderverzeichnet" (z.B. NLA WO 143 Urk Nr. 73 zu Nr. 73/1-73/4), sofern sie nicht physisch zu einer Einheit zusammengebunden sind. In letzterem Fall wurden In-Verzeichnungen angelegt.

Enthält 

Der Bestand enthält Verträge zur Beilegung von Grenzstreitigkeiten und strittigen Rechtfragen (u.a. Holzungsrechte, Hut und Weide, Nutzungsrechte von Flüssen) zwischen dem Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel und anderen Territorien, insbesondere dem Kurfürstentum Brandenburg (bzw. Königreich Preußen), den anderen welfischen Teilherzogtümern, den Hochstiften Halberstadt und Hildesheim sowie verschiedenen landsässigen Adelshäusern. Um Grenzfragen zu klären, wurden in aller Regel Kommissare abgeordnet, welche gemeinsam mit den Vertretern der Gegenseite (nicht selten vor Ort) den Fall untersuchten, um zu einer Einigung zu gelangen. Resultat der Kommissionsarbeit war eine Vertragsform, welche bereits zeitgenössisch als Grenzrezess bezeichnet wurde. Ausgearbeitet und ausgefertigt sowie ggf. besiegelt und unterschrieben wurde sie von den Kommissaren, auch wenn die jeweiligen Landesherren als Urheber aufgeführt werden. Letztere ratifizierten unter Umständen den Grenzrezess, entweder durch eine Beifügung oder durch einen eigenen Vertrag. Im Laufe der Frühen Neuzeit wurde ein solcher Ratifikationsvertrag, der den Kontrakt der Kommissare inserierte, zunehmend die Regel (vgl. die Ausführungen weiter unten).

FORMALANALYSE: Idealtypisch umfasst der Aufbau eines Grenzrezesses (Ausfertigung der Kommissare) folgende Bestandteile (am Beispiel von: NLA WO 143 Urk Nr. 23):

1) Promulgatio/Publicatio: "Zu wissen demnach"
2) Inscriptio: Nennung der Streitparteien als Adressaten der getroffenen Anweisungen ("den Einwohnern des Dorffs Veltheim, Im Stifft Halberstadt [...] an einem, dann den einwonernn zu Großen Winningestidt, Im Gericht Assenburgk, am andern Theill"). Oftmals ist die Inscriptio bereits vollständig in die Narratio eingebettet.
3) Narratio 1: Bericht über die vorgefallenen Streitigkeiten und Irrungen ("Allerhandt langkwirige Irrunge und gebrechen, von wegen der Drifft und Hutweide [...]").
4) Intitulatio: Nennung der Fürsten (kurze Titulatur) bzw. auf Grund einer Vakanz in diesem Fall des Domkapitels von Halberstadt als Streitschlichter und ggf. - in dieser Urkunde nicht, aber in vielen anderen - anschließende Nennung der verordneten Kommissare.
5) Narratio 2: Die Intitulation ist in die Narratio eingebettet, da im Anschluss die Umstände der Untersuchung und Schlichtung referriert werden (demnach sei die Angelegenheit durch die Kommissare "etzlicher tage vorglichen, unnd ist die Sachen Im Vorhore [d.h. Verhör], Augenschein unnd gudtliche Unterhandelunge genommen worden, darauß (Godt lob!) erfolget, das[s] die furstlichen undd des Thumbenstifftes [d.h. des Domstiftes] Abgesandte sich alß heute dato mit Vorwissen beider Partheien endtlich vorglichen und vortragen" haben).
6) Dispositio: Artikelweise Auflistung der getroffenen Beschlüsse, zumeist unter Aufzählung ("Erstlich sollen die Grenitzen [d.h. Grenzen] unnd Landesscheidungen beider Furstenthumb [...] unverruckt sein und pleiben [...]"). In diesem Fall werden fünf Regelungen getroffen.
7) Corroboratio: Einverständniserklärung der Adressaten ("habenn die Einwoner beider Dorffschafften mit Handt unnd munde vorsprochen und zugesagt, dießen Vortragk treulich zuhaltenn"). In diesem Fall - oftmals erfolgt die Nennung bereits in der Intitulatio - folgt die Liste der Kommissare als Zeugen ("unnd seindt die Abgesandte und Rhete gewesen, Vonn wegen Herzog Julii etc. [...] Fritz von der Schulenburgk, Burkhardt von Kramme [...]"). Es folgt ein Hinweis darauf, dass beide Aussteller eine Ausfertigung des Vertrages erhalten sowie die Ankündigung von Siegel und Unterschrift ("Zu Urkunde unnd warer wissenschafft seindt dieser Recesse zwene geleiches laudts gemacht unnd von viern auf jedem teil von den Abgesandten unnd Rheten vorsiegeldt. Es werden auch bei Herrschafften, Hertzogk Julius unnd das Thumbcapittel diesen vortragck Ingrossirn und Erwidern anhangenden Insigeln becrefftigen unnd volnziehen lassen")
8) Datumszeile: Ort und Datum.

GATTUNGSGESCHICHTLICHE BEOBACHTUNGEN: Die allermeisten Rezesse des 16. und der ersten Hälfte 17. Jahrhunderts sind mit den aufgedrückten Sekretsiegeln der Kommissare beglaubigt, welche mit einem großen Papier überdeckt sind. Die angekündigten Unterschriften und Siegel der Aussteller sind in aller Regel nicht vorhanden (Gegenbeispiel etwa: NLA WO 143 Urk Nr. 28). Wie bereits dargelegt, waren die protokollartigen Rezesse meist Bestandteil einer Akte, der sie aus konservatorischen und heuristischen Gründen spätestens im 18. Jahrhundert entnommen worden sind. Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine spezielle Aktenausfertigung handelt, während weitere Prachtausfertigungen mit Siegel und Unterschrift der Aussteller existierten. Wahrscheinlicher ist, dass diese angekündigte Beglaubigungsform fiktiv war und selten vollzogen wurde. Dafür sprechen auch die zeitgenössischen Aufschriften, welche die Verträge als "Original Recesse" bezeichnen.
Während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird die Ratifikation durch die Herrscher häufiger, im 18. Jahrhundert ist sie dann die Regel. Zunehmend wird ein separates Ratifikationsexemplar erstellt, das in einer Abschrift des von den Kommissaren erstellten Vertrages und einer Original-Ratifikation mit Siegel und Unterschrift des Monarchen besteht. Siegel und Unterschrift der Kommissare werden dabei zumeist nur nachgezeichnet (z.B. NLA WO 143 Urk Nr. 51 und Nr. 53), gelegentlich aber auch im Original erneuert (so im Falle von NLA WO 143 Urk Nr. 55) oder es werden beide Ausfertigungen als getrennte Urkunden angelegt, aber zu einem Vertrag zusammengebunden (NLA WO 143 Urk Nr. 57). Erkennbar verlässt die Schließung von Grenzkontrakten partiell die Sphäre der Amtsträger in Form der Kommissare und bezieht die Herrscher mit ein.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts nehmen die von den Kommissaren ausgefertigten Verträge zunehmend die Gestalt von Sitzungsprotokollen an (Musterbeispiel: NLA WO 143 Urk Nr. 70, in welchem der eigentliche Vertrag treffend als ein "gemeinschaftliche[s] Protocoll" bezeichnet wird), die im Zuge der herrscherlichen Ratifikation Vertragscharakter erhalten, indem sie in den Ratifikationsvertrag inseriert werden. Folglich wird hier letztlich ein Aktenstück in einen Kontrakt überführt.
Im 19. Jahrhundert tritt die Person des Monarchen wieder eindeutig in den Hintergrund. Die Ratifikation erfolgt nun durch das jeweils zuständige Ministerium, lediglich sein Siegel zeugt noch von der (ideellen) Urheberschaft und Autorität des Monarchen.

Literatur 

Vgl. das Bestandsvorwort von NLA WO 26 Alt

Philip Haas: Unterschätzt und verborgen hinter historischen Karten. Grenzrezesse im Überlieferungszusammenhang und Wege zu ihrer Verzeichnung. In: Archiv-Nachrichten Niedersachsen 26 (2022). S. 113-123 [speziell zu diesem Bestand].

Philip Haas: Die Urkunde als Kompendium und Findmittel? Frühneuzeitliche Grenzrezesse als analytischer Schlüssel zum Grenzkonflikt. In: Archiv für Diplomatik 69 (2023). S. 191-221 [speziell zu dieser Urkundengattung].

Findmittel 

Handschriftliches Findbuch aus dem 18. und 19 Jahrhundert

EDV-Findbuch in Arcinsys aus dem Jahre 2022

Siehe

Korrespondierende Archivalien 

v.a.:

NLA WO 26 Alt Grenzarchiv

NLA WO K Karten

NLA WO 2 Alt Kanzlei, Geheimer Rat

NLA WO 36 Alt Landeshauptarchiv

Weitere Angaben (Bestand)

Umfang in lfd. M. 

1,7 (92 Stück, 103 Verzeichnungseinheiten)

Bearbeiter 

Dr. Philip Haas (2022)