NLA ST Rep. 304/6

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Beschreibung: Bestand

Identifikation (kurz)

Titel 

Rotenburger Fürsorgeverein - Erziehungsanstalt Kalandshof

Laufzeit 

1902-1945

Bestandsdaten

Geschichte des Bestandsbildners 

Der am 16.01.1903 gegründete „Rotenburger Fürsorgeverein e. V.“ (Eintrag ins Vereinsregister am 13.03.1903) hatte laut Satzung „den Zweck, den nach dem Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 der Erziehung überwiesenen landwirtschaftlichen männlichen, evangelischen Zöglingen zunächst Unterkunft in einem Fürsorgeerziehungshaus sowie Pflege und Erziehung durch die Berufsarbeiten der inneren Mission und nach ihrer Entlassung die Möglichkeit der Verwendung in einem landwirtschaftlichen Betriebe oder der Ansiedelung zu verschaffen“. Dem neunköpfigen Vorstand mussten der Landrat des Kreises Rotenburg, der Superintendent von Rotenburg und der Vorsteher des Stephansstifts in Hannover angehören. Der Verein fungierte als Organ der Inneren Mission.

Für die Errichtung einer neuen Erziehungsanstalt erschien Rotenburg als geeigneter Ort, weil sich dort mit dem „Asyl für Epileptische und Idioten“ bereits eine Anstalt der Inneren Mission befand. Der Name „Kalandshof“ sollte an eine Kalandsbruderschaft erinnern, die sich im Mittelalter der Armen- und Krankenpflege in Rotenburg gewidmet hatte. Das Landesdirektorium der Provinz Hannover erklärte sich bereit, die Anstalt durch die Überweisung von Zöglingen und die Gewährung von Darlehen zu unterstützen. Als Rechtsträger sollte der neu gegründete Fürsorgeverein dienen. Man verstand sich als Tochteranstalt des Stephansstifts, der zur Eröffnung am 21.11.1903 die ersten Zöglinge nach Rotenburg überwies.

Der Kalandshof verfügte von Anfang an über eine geschlossene Abteilung für schwererziehbare, fluchtverdächtige Zöglinge, den sogenannten „Glumm“. Im November 1904 entschloss sich der Vorstand dazu, den Glumm durch einen Neubau zu erweitern und alle schwierigen Zöglinge aus der gesamten Provinz Hannover aufzunehmen. Vom 21.11.1903 bis zum 01.04.1905 wurden insgesamt 84 Jugendliche aufgenommen, davon 24 in die geschlossene Abteilung. Entwichen sind innerhalb dieses Zeitraums 29 Zöglinge.

Am 21.06.1920 wurde zur Ausbildung von Erziehungspersonal das Brüderhaus „Lutherstift“ gegründet und dem Kalandshof angeschlossen (Eintrag ins Vereinsregister am 04.11.1920). 1922 wurde ein etwa 80 Hektar großes Gelände am Grafel angekauft, wo noch im selben Jahr mit dem Bau eines neues Hofes begonnen wurde. Auf dem „Hartmannshof“ (benannt nach Rudolf Hartmann, dem damaligen Schatzrat im Landesdirektorium) wurde am 25.04.1923 das Haupthaus und am 21.12.1923 das Zöglingshaus, das sogenannte „Stukenheim“ eingeweiht.

Ab 1927 wurden immer weniger Jugendliche zur Fürsorgeerziehung an den Kalandshof überwiesen, sodass die Erziehungsanstalt 1929 schließlich wegen Unterbelegung aufgelöst wurde. Auf Anregung des Landesdirektoriums wurden die Gebäude vom „Asyl“ (ab 1930 „Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische, Geistesschwache und -kranke“) übernommen, da erhöhter Bedarf an Pflegeplätzen bestand. Der Rotenburger Fürsorgeverein blieb jedoch bestehen und änderte seine Satzung, indem sein Zweck auf die Heilung, Pflege und Betreuung von Epileptischen, Geistesschwache und -kranke ausdehnt wurde. Die Auflösung des Fürsorgevereins wurde am 30.11.1976 von der Mitgliederversammlung beschlossen.

Bestandsgeschichte 

Den Akten kommt nach einer am 17.08.2005 vor Ort vorgenommenen „Autopsie“ hohe Archivwürdigkeit zu. Die rund 2.600 Einzelfallakten der Fürsorgezöglinge enthalten ausführliche Informationen über die persönlichen, häuslichen und wirtschaftlichen Verhältnisse; eine Charakterisierung des Zöglings und seiner Eltern; den Beschluss des zuständigen Amtsgerichts über die Gründe für die Einweisung; Zeugnisse; Korrespondenzen, darunter auch private Briefe von und an die Zöglinge; Führungsberichte der Anstalt an die Staatsanwaltschaft; Auszüge aus dem Strafenregister (Art, Dauer und Grund der Bestrafung); Berichte der Fürsorger nach der Entlassung aus der Anstalt; Dienst- und Lehrverträge.

Die lückenhaft überlieferten, teilweise unsortierten, verschmutzten und verschimmelten Zöglingsakten wurden im Zeitraum von Juli 2016 bis April 2017 vom Unterzeichner geordnet, gereinigt und verzeichnet. Bis Ende November 2016 lagerte der Bestand in der Außenstelle Lüneburg des NLA Stade.

Literatur 

Backhausen, Wilhelm: Die Erziehungsanstalt Kalandshof zu Rotenburg i. H., in: Rothert, Wilhelm, Die innere Mission in Hannover in Verbindung mit der sozialen und provinzialen Volkswohlfahrtspflege, Gütersloh 1909, S. 126-128

Buhrfeind, Johann: Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische, Geistesschwache und -kranke in Rotenburg (Hannover) (bisher Asyl für Epileptische und Idioten). 50 Jahre Dienst an den Epileptischen und Geistesschwachen 1880-1930. Festbericht zum 50jährigen Jubiläum, Rotenburg 1930, S. 31-35

Wolf, Hans-Joachim: Aus den Anfängen der Rotenburger Anstalten und des Diakonissenmutterhauses – bis etwa 1907 –, in: Rotenburger Schriften 41 (1974), S. 19-66, hier S. 34f.

Kaminsky, Uwe: Über Leben in der christlichen Kolonie. Das Diakonissen-Mutterhaus Rotenburg, die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission und die Rolle ihrer Vorsteher 1905-1955, Bremen/Rotenburg (Wümme) 2016, S. 41-48

Eike Daniel Loeper: Die Erziehungsanstalt Kalandshof des Rotenburger Fürsorgevereins - Erschließungsprojekt im NLA-Standort Stade abgeschlossen, in: Archiv-Nachrichten Niedersachsen 21 (2017), S. 114-119

Informationen / Notizen

Zusatzinformationen 

Die Signaturen der Zöglingsakten weisen Springnummern auf, da nicht von allen auf dem Kalandshof aufgenommenen Zöglingen, die in dem dreibändigen Verzeichnis (Rep. 304/6, acc. 2010/65 Nr. 2766-2768) nachgewiesen sind, die jeweilige Akte erhalten geblieben ist. Sollte ein gesuchter Name in Arcinsys keinen Treffer ergeben, lohnt sich daher gegebenenfalls ein Blick in die alphabetischen Register der Zöglingsverzeichnisse, wo Angaben zur Person und der Zeitpunkt der Aufnahme in bzw. der Entlassung/Entweichung aus der Anstalt zu finden sind. Unter "Organisations- und Aktenzeichen" sind die Nummern der Verzeichniseinträge angegeben (die Buchstaben ABC entsprechenden den Bänden 1-3). Die Signaturnummern 1 bis 917 sind identisch mit der Nummerierung des dritten Zöglingsverzeichnisses, weshalb dort auf die Angabe von Organisations- und Aktenzeichen verzichtet wurde.

Da sich der Bestand bei Übernahme in das Archiv durchgehend in einem schlechten Erhaltungszustand (u.a. starke Verschmutzung und Schimmelsporen) befand, wurden umfangreiche Reinigungsmaßnahmen durchgeführt .

Stade, im August 2017

Eike Daniel Loeper