WirtA BS NWA 103

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Beschreibung: Bestand

Identifikation (kurz)

Titel 

Tönnieshof Keramikfabriken, Fredelsloh

Laufzeit 

1945-1987

Bestandsdaten

Beschreibung 

Die keramische Fertigung auf dem Tönnieshof ab 1946 durch Ernst und Christian Carstens zeigt, wie ein in Ostdeutschland enteignetes großes Unternehmen in Westdeutschland einen erfolgreichen Neuanfang unternahm. Begünstigt durch die sogenannte „Wirtschaftswunderzeit“ expandierte die Firma bis in die 1970er Jahre.
Der Bestand dokumentiert den Aufbau einer industriell-keramischen Produktionsstätte am „Dorfrand“, deren Neuanfang ohne Facharbeiter und erschlossener Infrastruktur erfolgte. Es geht um die Menschen, die diesen Industriebetrieb auf der „Grünen Wiese“ nach dem 2. Weltkrieg aufbauten, den Aufstieg dieser neuen Firma zu einem der Marktführer und Trendsetter für Feinsteinzeug in der Bundesrepublik und um deren Niedergang.
Die Firma Carstens ist ein herausragendes Beispiel für den raschen Aufstieg und den allmählichen Niedergang der keramischen Industrie im Nachkriegsdeutschland. Der Firmengründer Ernst Carstens, dessen sechs frühere Produktionsstätten in der Sowjetischen Besatzungszone beheimatet waren, suchte im Westen eine Stätte für einen Neuanfang. Er suchte hierfür eine Örtlichkeit, die den benötigten Rohstoff Ton in einer guten Qualität aufwies. So kam es zu einer Standortsuche in und um Fredelsloh. Dies auch, weil dort bereits seit dem 13. Jahrhundert eine Tradition des Töpferhandwerks bestand. Die qualitativ hochwertigen Tonvorkommen bildeten die technische Grundlage für die Produktion. Gleichzeitig standen infolge des starken Flüchtlingszuzugs in Südniedersachsen genügend Arbeitskräfte zur Verfügung. Hinzu kam, dass die Administration der englischen Besatzungszone bereit war, dieses als Betriebsumsiedlung deklarierte Vorhaben zu genehmigen. Der quasi auf der grünen Wiese errichtete neue Betrieb stieg innerhalb von nur wenigen Jahren wieder zu einem der führenden Unternehmen in der feinkeramischen Industrie Westdeutschlands auf.

Bestandsgeschichte 

Der Bestand ist durch die Firmengründung 1945 und den Konkurs der Auffanggesellschaft (1987) fest umrissen.
Die Keramik-Fabrikation auf dem Tönnieshof firmierte in den Anfangsjahren als „Majolikamanufaktur Tönnieshof“. Seit 1949 war nur noch die Bezeichnung ”Majolikafabrik Tönnieshof Ernst und Christian Carstens GmbH” feststellbar. 1953 erfolgte die Gründung der Tochterfirmen „Kunstkeramische Manufaktur Friedrich Goldscheider GmbH, Fredelsloh/Solling” und der „C. & E. Carstens, Keramische Werke Freden GmbH, Freden/Leine”.
1954 verstarb Ernst Carstens. Danach war sein Sohn Christian Alleininhaber der Firmen. Ab 1958 begann er eine grundlegende Umstrukturierung der Firmen. In diesem Prozess kam es 1960 zur Aufgabe der beiden Tochterfirmen Goldscheider und Freden und zur Umwandlung der Firmenbezeichnung in ”Carstens-Keramik GmbH Fredelsloh-Tönnieshof”. Nach dem Konkurs dieser Muttergesellschaft im Jahr 1977 wurde die Produktion von der Auffanggesellschaft, der „Ateliergemeinschaft Tönnieshof Lutz Kiel GmbH, Töpferdorf Fredelsloh“ weitergeführt. Diese Firma ging 1984 in Konkurs. Deren Auffanggesellschaft, die „Ateliergemeinschaft Tönnieshof GmbH“ meldete 1987 Insolvenz an.
Die Geschichte der Majolikamanufaktur Carstens, Tönnieshof ist ein Beleg für den Wandel, das schnelle Vergessen und für die sogenannte „Wirtschaftswunderzeit“ in Südniedersachsen. Diese Zeit war mehr als das, was die Schlagworte „Fifty´s“, „Nierentisch“ und „Petticoat“ ausdrücken. Die Keramik der Zeit verließ bisher eingeschlagene Wege. Die Geschichte der Industriekeramik der Carstens Firmen spiegelt dieses wider.
Die Industrieprodukte, im Gegensatz zum Handwerk, werden in der keramischen Produktion vor allem durch den erhöhten Produktausstoß abgegrenzt. Grundlage ist eine höhere Kapitalbasis, welche es beispielsweise ermöglicht, eine technische Ausrüstung zu erwerben, um viele Produkte in kurzer Zeit herstellen zu können. Für die Massenproduktion keramischer Produkte benötigt man zudem wenig Personal.
Die handwerklichen Attribute treten zugunsten eines geringeren Stückpreises zurück.
Bei der Produktion auf dem Tönnieshof wurden handwerkliche Produktionsmerkmale immer wieder aufgenommen und flossen in die Entwürfe ein. Ob es die imitierten Merkmale einer freigedrehten Keramik oder andere Formmerkmale waren: die industriellen Massenprodukte sollten Individualität ausstrahlen. Die Firmenleitungen aller Tönnieshof-Firmen hat sich immer bemüht, erstklassige Entwerfer für ihre Entwurfsabteilung zu gewinnen. Die „Handschrift“ der Tönnieshof-Produktion wurde durch die Dekore, ihre Vielfalt und durch ihren häufigen Wechsel entscheidend mit betont. So war es auch möglich, den Materialwert der einzelnen Produkte zu steigern und sie so im höheren Preissegment anzusiedeln.

Enthält 

In den Jahren 1987 bis 2000 wurden die Archivalien zur keramischen Tönnieshof-Produktion von Dr. Gerald Könecke aus Großenrode vor der Vernichtung bewahrt und zusammengetragen. Sein privates Archiv mit ca. 5.000 Keramiken und den schriftlichen Archivalien ging 2001 in das Eigentum der Stiftung der Kreissparkasse Northeim über.
Die zum Archiv gehörigen Keramiken wurden 2005 von der Kreisparkassen-Stiftung der Kreissparkasse Northeim zur Nutzung an den Geschichts- und Heimatverein Fredelsloh übertragen. Die Schriftgut-Archivalien wurden 2016 von der KSN-Stiftung an die „Stiftung Niedersächsisches Wirtschaftsarchiv Braunschweig“ (NWA) übereignet.
Die an das NWA übertragenen Archivalien wurden von Dr. Gerald Könecke, Andreas Gerlt und Dirk Kandziora mit Unterstützung durch das NWA in Wolfenbüttel 2016/17 mit ca. 300 Datensätzen erschlossen. Sie haben - der Fülle und Aussagekraft des Materials entsprechend - die Archivalien-Inhalte vergleichsweise tief erfasst. Der Bestand wurde auch sachthematisch gegliedert und indiziert.
Eine ausführliche Darstellung der keramischen Produktion auf dem Tönnieshof bei Fredelsloh/Solling finden Sie unter der Verzeichnung: WirtA BS, NWA 103, Zg. 2017/1 Nr. 4.
Weitere Archiv-Bestände mit Bezug zur Tönnieshof-Produktion sind im NLA-Standort Hannover zu finden.

Dr. Gerald Könecke, Großenrode


Die Fachaufsicht lag beim Unterzeichnenden. Dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung der Kreissparkasse Northeim und der VGH Stiftung war es dem NWA möglich, diese Verzeichnung der Archivalien zu ermöglichen. Dafür sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Wolfenbüttel, Februar 2018
Dr. Martin Fimpel

Literatur 

Literaturangaben.:
Bönisch, Brigitte, Gebrauchskeramik der fünfziger, Jahre. Magisterarbeit. Göttingen 1987
Bosse – Schreyer – Hartmann, Cherica, Hans-Hagen und Johanna Hottenroth, Walter Bosse.
Leben, Kunst und Handwerk 1904 – 1979. Wien 2000
Bust-Bartels, Axel, ‘Für viele roch die Gewerkschaft zu sehr nach Arbeiter.‘ Die Geschichte der Belegschaft der Majolikafabrik Tönnieshof (Fredelsloh) 1947 - 1977. In: Schäfer, Wolfgang, Eure Bänder rollen nur wenn wir es wollen. Hannoversch-Münden 1979, S. 237 – 254
Deutsches Bundesadressbuch 1956 der gewerblichen Wirtschaft. 3. Ausg. Bd. 1. Darmstadt 1956
Fuchs-Nebel, Susanne, Schöner Schein (Goldscheider Keramik u.a.). Schloß Halbturn/Austria, 1992
Friedrich, Wilhelm, Karlheinz Goedtke, München 1963
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Högl, Helga, Schöner Schein. In: Sammler Journal, 22Jg., 7/1993, S. 1092 - 1094
Knörlein, Rudolf, Keramische Arbeiten von 1928 –1982, Alt Duvenstedt o. J.
Könecke, Gerald, Tongruben, Pötte und die ”Wirtschaftswunderzeit”. In: Volkskunde in Niedersachsen, 12. Jg., 2/1995, S. 83 – 91
Könecke, Gerald, Sinneswahrnehmungen in volkskundlich-historisch orientierten Ausstellungen
– Eine Untersuchung über deren Fördermöglichkeiten am Beispiel industrieller Gebrauchskeramik der Jahre 1946 – 1986, Göttingen 1999
Könecke, Gerald, Goldscheider WEST-GERMANY - Glanzlicht der 50er Jahre - Gefäße, Figuren & Wandmasken 1953-1961, Eigenverlag Großenrode 2011
Liebscher, Imfreid / Willert, Franz: Technologie der Keramik. o. O. [Ostberlin, d.A.] 1956
Makus, Horst, Der Alltag der Moderne – die Keramik der 50er Jahre. Stuttgart 1998
Matschiner, Uta M., Nackt (Trilogie), Begleitkataloge zur Ausstellung „Nackt – die Ästhetik der
Nacktheit und der Exoten in den 50er Jahren, St. Valentin 2006
Neuwirth, Waltraud, Die Wiener Manufaktur Friedrich Goldscheider. In: KERAMOS. Zeitschrift
der Gesellschaft der Keramikfreunde. Heft 59, Köln Januar 1973.
(Ohne Autor) Majolikafabrik Tönnieshof GmbH. In: Keramische Zeitschrift, 2/1951, S. 68 – 69
Siepen, Bernhard, Vom Steingut und einer Steingutfabrik. In: Keramische Zeitschrift 7/1951,
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Wroz, Winfried, Das Töpferdorf Fredelsloh – Eine wirtschaftsgeographische Studie. Göttingen 1978.
(Sonderdruck aus: Neues Archiv für Niedersachsen, Bd. 27, Heft 1. S. 67 – 83)
Wüstefeld, Werner, Firmenkrisen und Betriebsschließung (unveröff. Magisterarbeit). Göttingen 1989