Gesundheitsamt Leer
1934-1981
Am 1. April 1935 wurden staatliche Gesundheitsämter eingerichtet. 1977 wurden die Behörden den Landkreisen überwiesen. Der Bestand enthält Akten zur Amtstätigkeit der staatlichen Gesundheitsaufsicht aus der Nachkriegszeit. Erbgesundheitsgerichtsverfahren fehlen.
I. Die Gesundheitsämter
Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war die staatliche Gesundheitsverwaltung nur auf "Krankheitsgefahren" ausgerichtet, d.h. auf die Abwehr konkreter Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit. Außerdem organisierte und überwachte sie das Heilwesen (Ärzte, Apotheken, Hebammen usw.). Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann allmählich der Aufbau einer Gesundheitsverwaltung, deren Gegenstand auch die Gesundheitsprophylaxe und öffentliche Hygiene war. Sie lag zunächst in der Hand staatlicher Behörden und Beamter, ehe es nach 1919 auch zur Gründung von kommunalen und anderweitigen Institutionen mit Aufgaben im Bereich der öffentlichten Gesundheit kam.
In den Landkreisen oblag die Gesundheitsverwaltung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert den Kreisärzten (Kreisyphysici), die als technische Berater den Landräten - diese bis 1945 staatliche Beamte - zugeordnet waren. Die Kreisärzte waren unmittelbare Staatsbeamte, die die gesundheitlichen Verhältnisse, Anordnungen und Anstalten in ihrem jeweiligen Kreis zu überwachen und bei Gefahr im Verzuge vorläufige polizeiliche Anordnungen gegen die Weiterverbreitung gemeingefährlicher und übertragbarer Krankheiten selbständig zu treffen hatten. Außerdem nahmen sie auf Ersuchen an den Sitzungen des Kreisausschusses und des Kreistages mit beratender Stimme teil und waren der Gerichtsarzt ihres Kreises. Die Kreisärzte waren auch schon damals berechtigt, an den Sitzungen des Jugendamtes teil- zunehmen. Anfang der 1930er Jahre gab es in Preußen in 474 Kreisen und kreisfreien Städten 397 Kreisärzte, die - ähnlich den Schulräten - als "Ein-Mann-Betriebe" fungierten. Personal- und Aufsichtsakten befinden sich im Bestand Landdrostei Aurich (Rep. 15) und Regierung Aurich (Rep. 16).
Am 1. April 1935 wurden in Ausführung des "Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom 3.7.1934 und unter Rückgriff auf ältere Überlegungen, vor allem aber zur gezielten Durchsetzung der nationalsozialistischen Gesundheits- und Rassenpolitik staatliche Gesundheitsämter eingerichtet, denen die bisher durch die Kreisärzte sowie durch sonstige Institutionen ausgeübte Gesundheitsverwaltung übertragen wurde. Sie waren weiter der Aufsicht der Bezirksregierung unterstellt (vgl. Rep. 16). Zum erweiterten Aufgabenbereich der Gesundheitsämter, die auch über eine "Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege" und über "Wohlfahrtspflegerinnen" verfügten, gehörten während der NS-Zeit u.a. Anträge auf Ehetauglichkeit, Ehestandsdarlehen, Ausbildungsbeihilfen, Ehrenpatenschaften usw. Zu diesem Zweck wurden sog. "Sippenakten" angelegt.
Wurden den Gesundheitsämtern Fälle von Epilepsie, Schizophrenie, Schwachsinn, körperlichen Mißbildungen usw. als mögliche Erbkrankheiten gemeldet bzw. gingen die Gesundheitsämter aus eigener Initiative vor, so wurden nach Maßgabe des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14.7.1933 zunächst im Gesundheitsamt selber im Hinblick auf eine mögliche Zwangssterilisation Akten angelegt. Durch den vom Amtsarzt eingereichten Antrag entstand dann aber auch beim zuständigen Erbgesundheitsgericht eine Verfahrensakte.
Das für ganz Ostfriesland zuständige Erbgesundheitsgericht Aurich war beim Amtsgericht in Aurich angesiedelt (Register in Rep. 121). Berufungen gegen Entscheidungen des EGG Aurich waren beim Erbgesundheitsobergericht in Celle möglich, dessen Akten im Hauptstaatsarchiv Hannover erhalten
sind, soweit sie nicht vernichtet wurden.
Da die Erbgesundheitsgerichte aber keine registraturführenden Behörden waren, wurden die Akten nach Beendigung des Verfahrens dem Gesundheitsamt zur Aufbewahrung übergeben, in dessen Zuständigkeitsbereich die betreffende Person wohnte. Von dort gelangte die Verfahrensakten, sofern sie erhalten geblieben sind, 1996 ins Staatsarchiv. Diese Akten begründen nicht nur die Wiedergutmachungsansprüche der Betroffenen, sondern sie stellen auch bedeutsame Quellen zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik dar.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die Gesundheitsämter Landesbehörden. Gemäß Artikel V des 8. Gesetzes zur Verwaltungs- und Gebietsreform vom 28.6.1977 (Nds. Gesetz- und Verordnungsblatt 1977, S. 233 ff) wurden sie dann zum 1.1.1978 "kommunalisiert", d.h. sie gingen in die jeweilige Landkreisverwaltung über. Die Medizinaluntersuchungsämter blieben hingegen bestehen; sie sind heute entweder aufgelöst oder Teil des Nds. Landesgesundheitsamtes.
II. Der Bestand Rep. 78
In Ausführung der mit Zustimmung der kommunalen Spitzenverbände erlassenen Verwaltungsvorschriften zum Nds. Archivgesetz (RdErl. d. StK v. 10.1.1995, Nds. MBl. 1995, S. 167 ff) und gemäß eines Erlasses des Nds. Sozialministeriums vom 13.2.1994 (AZ 401-1-0540/3) an die Bezirksregierungen sind die Gesundheitsämter verpflichtet, das ehemals staatliche Schriftgut, das v o r ihrer Kommunalisierung entstanden und n a c h ihrer Eingliederung in die Kommunalverwaltung inhaltlich nicht weiter bearbeitet worden ist, dem zuständigen Staatsarchiv zu übergeben. Damit gewährleistet das Land gemäß den Bestimmungen des Nds. Archivgesetzes von 1993 die Sicherung auch jenes in den staatlichen Gesundheitsämtern entstandenen Schriftguts, das gesonderten Geheimhaltungsvorschriften unterliegt.
Die nunmehr kommunalen Gesundheitsämter sind aufgrund des Archivgesetzes außerdem verpflichtet, die seit 1978 entstandenen bzw. danach erst geschlossenen Akten ihrem zuständigen Kreisarchiv zur Übernahme anzubieten. Da die Archive der Kreise Aurich, Leer und Wittmund (Dep. 201-204) vom Staatsarchiv Aurich verwaltet werden, übernimmt dieses auch in Zukunft ausgewählte Zeugnisse der Amtstätigkeit.
Im Zusammenhang mit der Gesamtübernahme aller noch in den Gesundheitsämtern liegenden Erbgesundheits- und Sterilisationsakten aus der NS-Zeit in die niedersächsischen Staatsarchive wurde das Gesundheitsamt Leer am 29.11.1995 besucht. Die als archivwürdig bewerteten Akten wurden als Akzession 1995/28 im Umfang von 1,5 lfd. m übernommen und 1997 unter meiner Anleitung von Frau Janßen im vorliegenden Findbuch verzeichnet.
Erbgesundheitsakten und Sippenakten für den Kreis Leer konnten bedauerlicherweise nicht mehr übernommen werden, da sie nach Aussage einer älteren Mitarbeiterin schon vor 1975 auf Geheiß des damaligen Amtsleiters ausgesondert und vernichtet worden sind.
Hingegen erlaubt es gerade die Überlieferungslage im Gesundheitsamt in Leer, einen gewissen Eindruck von den routinemäßigen Aufgaben eines Gesundheitsamtes im Rahmen der Gesundheitsaufsicht zu gewinnen.
Dr. Wolfgang Henninger
O. Rapmund, Erster Gesammt-Bericht über das öffentliche Gesundheitswesen des Regierungsbezirks Aurich, 1883-1885, Emden 1887
Ders., Zweiter Gesammt-Bericht (...), Berlin 1890
Bernhard Möllers, Gesundheitswesen und Wohlfahrtspflege im Deutschen Reich, Berlin 1925
Graf Hue de Grais, Handbuch der Verfassung und Verwaltung in Preußen und dem Deutschen Reiche, 23. Aufl., Berlin 1926, S. 442 ff. (Q 7, 2)
Alfons Labisch/Florian Tennstedt, Gesundheitsamt oder Amt für Volksgesundheit? Zur Entwicklung des öffentlichen Gesundheitsdienstes seit 1933, in: Norbert Frei (Hrsg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 35-66 (M 25, 72)
Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen, Kommunale Gesundheitspolitik in der Zwischenkriegszeit. Sozialhygiene und Rassenhygiene am Beispiel Gelsenkirchens, in: ebd., S. 67-80 (M 25, 72)
Norbert Frei (Hrsg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 309-323 (Auswahlbibliogr.)
Sabine Kramer, "Ein ehrenhafter Verzicht auf Nachkommenschaft". Theoretische Grundlagen und Praxis der Zwangssterilisation im Dritten Reich am Beispiel der Rechtssprechung des Erbgesundheitsgerichts Celle, Baden-Baden 1998 (unter Verwendung von Rep. 16/1 und Rep. 79)
Aus dem Gesundheitsamt Leer übernommene Bücher, die sich jetzt in der Dienstbibliothek des Staatsarchivs befinden:
- Oskar Gundermann, Besichtigungen durch das Gesundheitsamt, 3 Bde., Bielefeld o.J.
- Anweisung zur Bekämpfung des Fleckfiebers (Flecktyphus) Berlin 1920
- Christoph Harms, Die Entwicklungsstadien der Lungentuberkulose, Leipzig 1926
- Bonne, Das Verbrechen als Krankheit, München 1927
- Heinrich Schopohl, Ausbildung und Prüfung der Mediziner in den Kulturländern, Berlin 1931
- Helene Wessel, Lebenshaltung aus Fürsorge und aus Erwerbstätigkeit, Berlin 1931
- Ewald Gerfeldt, Das Krankenhaus und seine Betriebsführung, Jena 1935
- Der Amtsarzt, Jena 1936
- Gesundheitsrecht, München 1939
- Gewerbeordnung für das Deutsche Reich, München 1940
- Die Rechtsprechung zur Polizeiverordnung über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens, Oldenstadt 1941
- Max Gundel, Die ansteckenden Krankheiten, Leipzig 1942
- Berufsordnung und Verfahrensordnung für die Berufsgerichte der Deutschen Heilpraktikerschaft e.V., München 1942
- Der Amtsarzt, Jena 1943
- F. Holtzmann, Gewerbehygiene und Berufskrankheiten, Karlsruhe 1949
- Steffen Berg, Gerichtliche und Begutachtungsmedizin, München 1950
- Müller (Hrsg.), Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Stuttgart 1951
- Hecker/Schmelz, Gesundheitsfürsorge, München 1954
- Das Arztrecht in Niedersachsen (Loseblattsammlung), Hannover 1959
Link: https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction?detailid=b168